Verdrängung und dissoziative Amnesie

Da die Wiedergewinnung angeblich unzugänglicher Gedächtnisinhalte eine große Rolle bei der therapeutischen Erzeugung falscher Erinnerungen an kindliche Traumata spielt, müssen wir uns mit der wissenschaftlichen Fundierung eines postulierten Mechanismus dafür befassen, der Verdrängung und der dissoziativen Amnesie.

Verdrängung bei Sigmund Freud

Der Begriff der Verdrängung gehört zur psychologischen Folklore seit Sigmund Freud. Freud hat den Begriff nicht erfunden, aber vielfach verwendet. Bereits bei Schopenhauer in Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) und bei Johann Herbart in Psychologie als Wissenschaft (1834) heißt es, dass ein Konflikt zwischen Intellekt und Affekt bzw. zwischen vorhandener und neuer Information zum Verdrängen führen kann.

Freud verwendete den Begriff, ohne ihn jemals schlüssig zu definieren. Bereits in seiner Verführungstheorie hatte Verdrängung ihren Platz. Angeblich hatten alle von ihm behandelten Frauen die Erinnerung an Missbrauch in der Kindheit verdrängt. Als Freud seine Verführungstheorie fallenließ, behielt er das Konzept der Verdrängung jedoch bei. Nur verdrängten die Patienten jetzt ihren ödipalen Wunsch, den gleichgeschlechtlichen Elternteil zu töten und den gegengeschlechtlichen für sich zu gewinnen. Verdrängung wurde so zu einem Grundkonzept der Psychoanalyse. Doch auch diese lieferte lange Zeit keine klare Definition des Begriffs, weil sich eine wissenschaftlich-kritische Arbeitsweise in der Psychologie erst im Laufe des 20ten Jahrhunderts durchgesetzt hat. Lange galt in der Psychologie eine intuitiv-interpretierende Arbeitsweise als hinreichend, um wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Auch Freuds Arbeitsweise war nach heutigen Begriffen alles andere als wissenschaftlich. Kollegen, die eine kritischere Arbeitsweise bevorzugten und deshalb seinen Konzepten nicht folgen konnten oder wollten, bedachte Freud mit Hohn.

Um heute kritisch über Verdrängung zu sprechen, brauchen wir genauere Definitionen.

Unterschiedliche Definitionen der Verdrängung

Vor allem in der Umgangssprache von Laien bedeutet Verdrängung ein absichtliches Vergessen – sofern man überhaupt absichtlich vergessen kann – oder ein absichtliches Vermeiden, sich mit etwas zu befassen, was zum Vergessen führt. Diese Definition steht auf dem Boden der Gedächtnispsychologie. Die kennt unterschiedliche Mechanismen des Vergessens und graduelle Abstufungen bis zum völligen Verlust der Erinnerung. Je nach dem Grad des Vergessens ist eine Wiedergewinnung der Erinnerung möglich, aber nur dann, wenn das Individuum noch in irgendeiner Weise Zugang zu den Gedächtnisinhalten hat. Auch Psychotherapeuten haben keinen privilegierten Zugang, können aber durch die Präsentation geeigneter Schlüssel (engl. „cues“) eine Wiedererinnerung fördern. Es gelten die umfangreichen Resultate der Gedächtnispsychologie, insbesondere auch der Mechanismus der kindlichen Erinnerungslücke. In der wissenschaftlichen Psychologie wird dieser Vorgang aber nicht als Verdrängung bezeichnet und auch hier von den folgenden Betrachtungen ausgeschlossen.

Viele moderne Psychoanalytiker verstehen unter Verdrängung einen vollkommen unbewussten Vorgang, bei dem verdrängte Inhalte für jedermann unzugänglich in ein wie immer definiertes Unbewusstes verschoben werden. Von dort aus beeinflussen sie aber weiterhin das Verhalten dieser Person. Nach diesem Konzept sind verdrängte Inhalte grundsätzlich nicht wiedergewinnbar. Deshalb brauchen wir dieses Konzept im Zusammenhang mit falschen Erinnerungen nicht zu betrachten.

Uns interessiert aber eine dritte Definition der Verdrängung, die heute vielfach von Trauma-Erinnerungstherapeuten benutzt wird. Nach dieser Version werden traumatische Erlebnisse automatisch und ohne willentliche Einwirkung in einer Art Sondergedächtnis abgelegt, in dem sie – unabhängig von normalen Erinnerungsverfälschungen – unverändert erhalten bleiben, dem Individuum unzugänglich sind, jedoch durch die Kunst des Therapeuten wiedergewonnen werden. Heute wird diese Version gelegentlich als harte Verdrängung bezeichnet, und das Folgende bezieht sich auf diese, für falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch relevante Definition.

Das Ungeheuer von Loch Ness und andere Mythen

Es gibt Mythen, die sich hartnäckig im öffentlichen Bewusstsein halten, obwohl sie wissenschaftlich niemals bestätigt werden konnten. Dazu gehören das Ungeheuer von Loch Ness, die Besuche Außerirdischer mit fliegenden Untertassen und einige mehr. Vom wissenschaftlichen Standpunkt sind diese Mythen Möglichkeits-Hypothesen (siehe Wissenschaftliche Methodik). Sie können niemals widerlegt werden, werden aber bereits durch einen einzigen gesicherten Fall bewiesen. Man kann also alle diese Mythen vertreten, niemand kann einem beweisen, dass sie falsch sind. Bei dem Ungeheuer von Loch Ness und bei den fliegenden Untertassen gibt es jedoch naturwissenschaftliche Ergebnisse, die diese Thesen sehr unwahrscheinlich machen, und sie entsprechen auch nicht der täglichen Erfahrung. Deshalb werden diese Mythen heute meist belächelt.

Erstaunlicherweise gehört zu diesen Mythen auch der Mythos von der Verdrängung, jedenfalls im Sinne der dritten der obigen Definitionen. Auch hier ist der einzige gesicherte Fall, der wissenschaftlichen Kriterien standhält und der die Verdrängung beweisen könnte, nie gefunden worden, obwohl es an Versuchen dazu nicht gefehlt hat. Die bis 1990 vorliegenden Arbeiten dazu wurden von D. S. Holmes (1990) kritisch untersucht, und er kam zu dem Ergebnis, dass es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen kontrollierten Laborbeweis für die Existenz der Verdrängung gab.

Pope (1997) hat gezeigt, dass auch einige neuere Studien, die behaupten, den Beweis für die Existenz der Verdrängung einer Erinnerung an Missbrauch in der Kindheit zu liefern, bei genauerer Untersuchung wissenschaftlicher Kritik nicht standhalten. Besonders ausführlich beschäftigt sich McNally (2005) mit dem Thema und untersucht über 50 Einzelstudien, die erst nach der Arbeit von Holmes entstanden waren. Auch er kommt zum gleichen Ergebnis. Er schreibt, dass die Arbeiten, die eine Unfähigkeit, sich an traumatische Ereignisse zu erinnern, belegen sollen, entweder an schwerwiegenden Fehlern leiden oder eine andere, näherliegende Deutung gestatten.

Dissoziative Amnesie

Neben der Verdrängung gibt es einen weiteren postulierten Mechanismus, der Gedächtnisinhalte unzugänglich macht, und der eine große Rolle bei der therapeutischen Erzeugung falscher Erinnerungen an kindliche Traumata spielt, die Abspaltung oder Dissoziation, die zur dissoziativen Amnesie führt.

Unter Dissoziation bezeichnet die Psychologie das Phänomen, dass eine Person nicht in der Lage ist, von ihrer Umwelt oder Teilen davon ein integriertes und gesamtheitliches Bild aufzubauen. Diese Personen können daher Vorstellungen von ihrer Umwelt haben, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten vollkommen unvereinbar sind. Da kaum ein Mensch ein wirklich einheitliches Bild seiner Umwelt hat, sind mildere Dissoziationsphänomene normal und weitverbreitet. Ihre Existenz ist unumstritten. Sie spielen in den verschiedensten Kulturkreisen auf der Welt eine Rolle, und sie werden häufig in religiösem Zusammenhang oder in Verbindung mit Trancezuständen berichtet. Kontrovers und wissenschaftlich umstritten sind jedoch viele Fragen einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung und ihrer Verursachung, die weiter unten behandelt weren. Hier geht es um die Tatsache, dass zu den Symptomen dieser Störung eine Aufspaltung der Persönlichkeit in unterscheidbare Unterpersönlichkeiten gehört, die u. U. auch sehr unterschiedliche Gedächtnisinhalte haben. Die therapeutische Deutung ist, dass die Aufspaltung durch ein überwältigendes Trauma verursacht wurde, dessen Erinnerung zum Schutz der Hauptpersönlichkeit in das Gedächtnis einer Unterpersönlichkeit verschoben wurde. Die Hauptpersönlichkeit ist also in Bezug auf das traumatische Ereignis amnestisch. Das wird als dissoziative Amnesie bezeichnet.

Wie man sieht, sehen die Theorien zur Verdrängung und zur dissoziativen Amnesie die gleiche Wurzel: Schutz vor Erinnerung an ein traumatisches Ereignis. Deshalb werden die beiden Mechanismen in der neueren wissenschaftlichen Literatur oft auch nicht mehr unterschieden. Auch bei der dissoziativen Amnesie wurde bisher kein einziger Fall gefunden, der ein nachweisbares traumatisches Ereignis mit einer Amnesie der Hauptpersönlichkeit und einer Erinnerung einer Unterpersönlichkeit verbindet. Einer der renommiertesten Forscher zur Erinnerung an Traumata, Richard McNally, fasst die wissenschaftlichen Ergebnisse mit den Worten zusammen: „Die Auffassung, der Verstand schütze sich selbst, indem er traumatische Erinnerungen abtrennt und für das Bewusstsein unzugänglich macht, ist ein Stück psychiatrischer Folklore ohne jede überzeugende empirische Grundlage.“ (Übersetzt vom Herausgeber der Website)

Gegenteilige Erfahrungen zu Verdrängung bzw. Abspaltung

Gedächtnisforscher stellen in Fällen, in denen ein gesichertes Trauma vorliegt, in der überwiegenden Zahl der Fälle das Gegenteil von Verdrängung fest: Traumata werden sehr gut erinnert, und zwar umso besser und klarer, je schmerzhafter die Erfahrung war oder je häufiger die Erfahrung sich wiederholte. Ein großer Teil dieser Berichte stammt von Kriegsveteranen. Oft drängen sich diese Erinnerungen den Betreffenden auf, und sie würden sie gerne vergessen.

Trauma-Amnesien sind sehr selten

Obwohl traumatische Ereignisse meist nur zu gut erinnert werden, gibt es auch Fälle, in denen traumatische Vorgänge einer Erinnerungsstörung unterliegen, für die keine physische Ursache gefunden wurde. In den meisten belegten Fällen handelt es sich um zeitweilige oder partielle Amnesie für Einzelheiten des betreffenden Vorgangs und sicher nicht um Verdrängung. Fälle, bei denen die Erinnerung an einen nachgewiesenen traumatischen Vorgang vollständig verloren geht, sind äußerst selten, und methodische Fehler der Studien oder physische Ursachen sind nicht völlig auszuschließen. Einzelheiten zu traumabedingten Amnesien finden sich bei Volbert und McNally.

Verdrängung widerspricht dem Darwinschen Evolutionsprinzip

Das Konzept der Verdrängung steht im Widerspruch zu einem der bestens fundierten Prinzipien der Entwicklungsbiologie. Nach dem von Darwin begründeten Prinzip haben sich die Arten durch das Spiel zufälliger Veränderungen (Mutation) und die Selektion der im Leben tüchtigsten Varianten entwickelt. Jede Entwicklung, die es dem Lebewesen erschwert, sich im Lebenskampf durchzusetzen, ist nach diesem Prinzip zum Aussterben verurteilt.

Traumatische Erlebnisse sind oft lebensbedrohend. Die Beobachtung der Gedächtnisforscher, dass die Erinnerung an Traumata besonders gut im Gedächtnis bleibt, ist in Übereinstimmung mit dem Darwinschen Prinzip: Die Erinnerung gibt dem Individuum bei wiederholter Bedrohung die Fähigkeit, adäquat zu reagieren, um sein Leben zu retten. Würde die Erinnerung aber verdrängt, so wäre das Individuum weniger gut auf eine erneute Bedrohung vorbereitet. Demnach hätte sich die Verdrängung traumatischer Erlebnisse niemals entwickeln dürfen.

Der Zirkelschluss der Therapeuten

Von den Trauma-Erinnerungstherapeuten wird meist als „Beweis“ für Verdrängung die Tatsache angeführt, dass sie in der Lage sind, eine „Erinnerung“ an angeblich unzugängliche Traumata zu erreichen. Wenn sie in ihren Therapien von der Existenz unzugänglicher Trauma-Erinnerungen ausgehen und daraus die Notwendigkeit ableiten, alles zu unternehmen, um eine „Wiedererinnerung“ erreichen, ist dies alles andere als ein wissenschaftlicher Beweis. Denn gerade die Bemühungen, eine Wiedererinnerung zu bewirken, gleichen strukturell den Maßnahmen, mit denen künstlich falsche Erinnerungen erreicht werden können, was im therapeutischen Setting (Vertrauen, lange Dauer) sehr wahrscheinlich ist. Der „Beweis“ ist ein Zirkelschluss, bei dem die Grundannahme der Therapie als Ergebnis am Ende wieder herauskommt, siehe Tavris und Aronson.

Wenn Ihnen das in einer eigenen Psychotherapie auffällt, sind Sie in Gefahr. Nehmen Sie Kontakt mit False Memory Deutschland auf.

Literatur zu Verdrängung und traumatischer Amnesie

Traumatische DissoziationKindliche Erinnerungslücke

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