Experimentelle Erzeugung falscher Erinnerungen

Grundsätzliche Überlegungen

Es gibt in der experimentellen Psychologie eine klassische Untersuchung zu falschen Erinnerungen. Nach seinen ersten Autoren wird diese Untersuchung als Deese-Roediger-McDermott-Test (DRM-Test) bezeichnet. Dabei handelt es sich um Wortlisten, die in engem Zusammenhang stehen (z.B. Nickerchen, Schlummer, Traum), in denen aber das Schlüsselwort des Zusammenhangs (in diesem Falle Schlaf) fehlt. Probanden, die die Liste zu lesen bekommen und eine Weile später die gelesenen Worte wiedergeben sollen, erwähnen häufig das Wort Schlaf, obwohl es nicht auf der Liste steht. Sie haben also eine falsche Erinnerung, die durch den Versuchsaufbau provoziert wurde.

Die mit diesem Test nachgewiesenen falschen Erinnerungen lassen sich aber kaum falschen Erinnerungen über das eigene Leben vergleichen. Es stellt sich daher die Frage, ob man auch falsche autobiographische Erinnerungen künstlich erzeugen oder provozieren kann.

Zu dieser Frage muss man einige grundsätzliche Überlegungen anstellen. Darf man ein Experiment machen, in dem man den Probanden eine nachweislich falsche Erinnerung an sexuellen Missbrauch einpflanzt? Das ist ethisch nicht vertretbar. Man weiß, dass diese Erinnerungen nicht ohne weiteres wieder gelöscht werden können. Auch künstlich erzeugte Erinnerungen könnten das Leben der Versuchspersonen schwer schädigen. Es kann vorkommen, dass diese Erinnerungen – auch wenn man der Versuchsperson nachträglich zeigt, dass es eine falsche Erinnerung ist – von den Versuchspersonen nicht aufgegeben wird. Sie könnte zerstörend für das Leben der Person und ihrer Familie sein.

Wenn man also Experimente mit künstlich eingepflanzten falschen Erinnerungen macht, dürfen es nur harmlose Erinnerungen sein, die das Leben der Versuchspersonen nicht schädigen. All diese Überlegungen machten sich Elizabeth Loftus und ihre Mitarbeiter, als sie als ersten derartigen Versuch das Experiment „lost in the mall“ und später das analoge Experiment „meeting bugs bunny in disneyland“ entwarfen. Es gab Vorversuche, bevor das eigentliche Experiment in Angriff genommen wurde. Siehe Loftus, Coran und Pickrell 1996.

Das Experiment „lost in the mall“

Bei diesem Experiment wirkten als Versuchspersonen 24 Freiwillige (Studenten) mit. Mit deren Einverständnis hatte man sich mit ihren Familien in Verbindung gesetzt und von diesen jeweils drei tatsächliche Vorkommnisse aus der Kindheit der Versuchspersonen erfahren. Den Versuchspersonen war mitgeteilt worden, dass sie in dem Versuch ihre Erinnerungen zu Kindheitserlebnissen wiedergeben sollten.

Die Fragebogen, die die Versuchspersonen erhielten, enthielten auch die Kurzbeschreibung der drei von der Familie mitgeteilten Ereignisse, zu denen die Probanden ihre Erinnerungen wiedergeben sollten. Sie enthielten aber zusätzlich ein viertes, frei erfundenes Ereignis: Die Probanden sollten sich daran erinnern, wie sie als Kinder ihren Eltern in einem Einkaufszentrum verloren gegangen waren.

Tatsächlich erinnerten sich sechs der 24 Personen an das frei erfundene Ereignis und einige teilten dazu erstaunlich detaillierte Einzelheiten mit. Im Anschluss an diesen Teil des Versuchs wurden die Probanden darüber informiert, dass eines der Ereignisse niemals stattgefunden hatte und frei erfunden war. Sie wurden aufgefordert, das erfundene Ereignis zu benennen. Fünf der sechs Personen benannten ein anderes Ereignis als erfunden.

Weitere Experimente zur Erzeugung falscher Erinnerungen

Kritiker des Experiments „lost in the mall“ meinten, es könne ja sein, dass die sechs Versuchspersonen, die sich an das fiktive Ereignis erinnerten, tatsächlich als Kinder einmal im Einkaufszentrum verloren gegangen seien. Deshalb wurde ein zweites Experiment unternommen, bei dem das fiktive Ereignis von vornherein ausgeschlossen war. Den Probanden wurde nahegelegt, sich daran zu erinnern, wie sie den Comic-Hasen Bugs Bunny in Disneyland getroffen hatten. Bugs Bunny ist aber keine Disney-Figur und taucht deshalb in Disneyland nicht auf. Die Ergebnisse des zweiten Experiments waren völlig analog.

Diese Implantation falscher Erinnerungen fand zahlreiche Nachfolge-Experimente, die durchweg ähnliche Ergebnisse hatten. Eine Übersicht über die Experimente bis 2002 findet sich bei McNally. Eine sehr gute Zusammenfassung dieser Versuche und der Bedingungen, unter denen falsche Erinnerungen entstehen, ist auch bei Volbert zu finden. Volbert stellt fest, dass Versuche wie „lost in the mall“, bei denen Ereignisse suggeriert werden, die zwar fiktiv, aber nicht unwahrscheinlich sind, bei 15 bis 25% der Probanden zu falschen Erinnerungen führen. Wenn jedoch Hypnose im Spiel ist, kann der Prozentsatz falscher Erinnerungen bei einmaliger Suggestion auf über 50% steigen.

In jüngster Zeit konnte die britische Forscherin Julia Shaw sogar bei 60% ihrer Probanden und mit wenig suggestivem Aufwand Erinnerungen künstlich erzeugen, die kein Mensch gerne freiwillig zugeben würde: Es sind Erinnerungen an eigene kriminelle Handlungen, die es in Wirklichkeit nie gegeben hatte.

Schlüsse aus den Experimenten

Diese Versuche beweisen, dass es mit einfachsten Mitteln möglich ist, falsche Erinnerungen zu erzeugen. Wichtig ist dabei eine Atmosphäre des Vertrauens, die bei dem Experiment „lost in the mall“ durch die Einbindung der Familie des Probanden gegeben war. Ähnliche Ansätze, den Probanden Vertrauen zu geben, wurden bei fast allen dieser zahlreichen Versuche verwendet. Aufgrund dieses Vertrauens gewinnt die Suggestion des fiktiven Ereignisses Glaubwürdigkeit. Das interpretierende Modul im Gehirn (siehe Umgang mit Widersprüchen und Bestätigungsneigung) stellt einen Widerspruch zwischen der Suggestion und der Erinnerung fest und hat jetzt die Aufgabe, diesen Widerspruch zu beseitigen. Er löst die Aufgabe, indem er die fehlende Erinnerung als „fake news“ erzeugt und womöglich auch noch mit allen Ausschmückungen versieht, mit denen Erinnerungen verbunden zu sein pflegen.

Überträgt man diese Versuchsergebnisse auf eine Therapiesituation, so ist da die Atmosphäre des Vertrauens meist von Haus aus gegeben. In einer Psychotherapie muss der Therapierte praktisch immer dem Therapeuten vertrauen, weil er ja Hilfe von ihm erwartet. Das Vertrauen zum Therapeuten macht die Suggestion sexuellen Missbrauchs in der Therapie so gefährlich. Während die falschen Erinnerungen in den Versuchen nur in zwei oder drei kurzen Interviews mit den Probanden erzeugt wurden, wird in Psychotherapien oft monatelang und unter erheblichem suggestivem Druck daran gearbeitet, die Erinnerungen an sexuellen Missbrauch „wiederzugewinnen“. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass bei einem großen Teil der Therapierten falsche Erinnerungen entstehen. In der gleichen Richtung wirkt auch der Abbruch der Kontakte zu Personen, die in Verdacht gezogen werden, die aber meist die einzigen sind, die falsche Erinnerungen zurückweisen und unter Umständen sogar widerlegen könnten.

Literatur zur experimentellen Erzeugung falscher Erinnerungen

Historische Entwicklung der Trauma-ErinnerungstherapieKann man falsche Erinnerungen erkennen oder nachweisen?

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