Borderlinestörung

Geschichte, Definition und Ursachen der Borderlinestörung

Die Borderlinestörung ist als Diagnose relativ neu, obwohl der Begriff schon lange bekannt ist. Bereits 1884 wurde er von C.H. Hughes für eine Störung benutzt, die an der Grenze (= borderline) zwischen neurotischen und psychotischen Störungen liegt. Lange Zeit taucht der Begriff nur sporadisch auf. Erst durch die grundlegenden Arbeiten von Otto F. Kernberg in den 60er Jahren wurde die Störung als solche definiert. Sie wurde in der Folge in den Diagnosekatalog DSM III aufgenommen und ist auch in DSM IV und DSM V weitgehend unverändert geblieben. Wenn hier die Definition nach DSM IV zugrunde gelegt wird, so deshalb, weil die neueste Definition in DSM V, die in drei Ebenen gegliedert ist, zwar inhaltlich weitgehend äquivalent, aber etwas unübersichtlich geworden ist. Die Störung wird (nach DSM IV) durch 9 Kriterien charakterisiert, von denen 5 erfüllt sein müssen, um die Diagnose zu stellen. Diese Kriterien sind (hier verkürzt formuliert):

  1. Verzweifelte Bemühung, die Angst vor dem Verlassenwerden zu vermeiden
  2. Intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen, Wechsel zwischen Idealisierung und Entwertung
  3. Instabilität des Selbstbildes
  4. Impulsives, potentiell selbstschädigendes Verhalten (z.B. Drogenmissbrauch, Essstörungen, Hochrisikoverhalten …)
  5. Selbstmord-Fantasien, -Drohungen, -Handlungen; Selbstverletzung
  6. Stark schwankende Stimmungen (Euphorie, Dysphorie, Reizbarkeit, Angst), oft nur für Stunden oder wenige Tage
  7. Chronisches Gefühl der Leere
  8. Unangemessene und schwer kontrollierbare Wutausbrüche
  9. Vorübergehende Wahnvorstellungen und/oder dissoziative Symptome

Auf den ersten Blick erscheinen diese Kriterien unzusammenhängend. Erst ein genauerer Blick zeigt, dass sie mit einander verflochten sind. So macht die Unsicherheit der Selbsteinschätzung (Kriterium 3) besonders abhängig von Bezugspersonen (Kriterium 1), führt zur Identifikation eines Schwarzen Peters (Kriterium 2), auf den man zu Recht wütend ist (Kriterium 8) und dem zeitweilig auch Vorwürfe gemacht werden können, die nicht der objektiven Wahrheit entsprechen (Kriterium 9). Oder man versucht das Gefühl der Leere (Kriterium 7) durch Drogen oder hochriskantes Verhalten (Kriterium 4), durch Selbstverletzung oder gar Selbstmordversuch (Kriterium 5) zu überwinden. Ähnliche Verflechtungen bestehen zwischen allen Kriterien und diese erst machen das Phänomen der Borderline-Persönlichkeit aus.

Die mehr oder weniger willkürliche Festlegung, dass von den neun Kriterien für eine Diagnose fünf erfüllt sein müssen, ist problematisch. So gibt es Borderline-Persönlichkeiten, die im Lauf der Zeit alle oder fast alle dieser Kriterien erfüllen, jedoch nie fünf davon gleichzeitig oder in einem engeren Zeitrahmen. Sie erfüllen demnach niemals die Diagnose. Auch ist das Kriterium für eine Heilung (statt 5 nur noch 4 Kriterien erfüllt) unstetig und unrealistisch. Obwohl die Fachleute sich darüber einig sind, dass es unterschiedlich schwere Ausprägungen dieser Störung gibt, hat man sich noch nicht auf eine graduelle Definition der Borderlinestörung festlegen können.

Sind nur wenige dieser Kriterien klar erfüllt, so reicht das nicht aus, um eine Borderline-Diagnose zu stellen. Nichtsdestoweniger sollten im Verhalten der Person offensichtlich erkennbare Kriterien auch als Hinweis auf die Möglichkeit einer Borderlinestörung verstanden werden. Man muss berücksichtigen, dass aus der obigen Liste nur die Kriterien 2, 4, 5, 6, und 8 an der Oberfläche liegen und im Verhalten äußerlich erkennbar sind. Die Kriterien 1, 3, 7 und 9 aber erschließen sich erst bei einer genaueren psychotherapeutischen Anamnese.

Die Borderlinestörung wurde erst spät erkannt

Die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der Kriterien ist auch ein Grund dafür, dass es so lange gedauert hat, diese Störung als zusammenhängende Einheit zu erkennen. Viele oder alle dieser Kriterien treten auch einzeln oder im Zusammenhang mit anderen Störungen auf. So wurden oft Einzelkriterien wie z.B. die Depressionen der Borderline-Persönlichkeiten (Kriterien 7 und 8) isoliert therapiert, aber ohne durchgreifenden Erfolg, da die eigentliche Ursache nicht behandelt wurde. Es ist auch kein Zufall, dass die frühen Arbeiten zur Borderlinestörung fast ausschließlich von Therapeuten psychoanalytischer Orientierung stammen, denn diese arbeiten eher ganzheitlich und sind weniger am Einzelsymptom orientiert.

Aus der psychoanalytischen Tradition stammen auch die meisten Theorien zu den Ursachen der Borderlinestörung. Durch das Forschen nach Ursachen im Kindesalter wurden vielfach Kindheitstraumata als Ursachen vermutet. Bis in die 80er Jahre fand dabei sexueller Missbrauch keine Erwähnung, wurde aber im Zuge der Missbrauchsdiskussion der 90er Jahre als vorwiegende Ursache der Borderlinestörung ausgemacht. Das führte soweit, dass aus einer vorhandenen Borderlinestörung auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurück geschlossen wurde, ohne dass es dafür eine empirisch-wissenschaftliche Grundlage gibt.

In diesem Zusammenhang ist eine Arbeit aus neuerer Zeit von Interesse, in der, ausgehend von aussagepsychologisch als nicht erlebnisbasiert beurteilten Berichten, in einem hohen Anteil der Fälle der Verdacht auf Borderlinestörung bestand (Böhm, Hartmut, et.al. Die Borderlinestörung als Quelle (nicht)-intentionaler Falschaussagen, in Praxis der Rechtspsychologie 12/2, 2002). Die Arbeit stellt heraus, dass Borderline-Persönlichkeiten hohe Eigen- und Fremdsuggestibilität zeigen und sich dabei bevorzugt zeittypischen Themen – und das ist bei uns seit den 90er Jahren der sexuelle Missbrauch – zuwenden. Die Anwendung aussagepsychologischer Methoden im therapeutischen Kontext könnte die Therapie auf eine realistische Grundlage stellen und die unkritische Übernahme realitätsferner Behauptungen des Patienten vermeiden.

Heutzutage geht die Forschung davon aus, dass die Ursachen der Borderlinestörung in vergleichbarem Maße genetisch und entwicklungsbedingt sind. Unter den Entwicklungseinflüssen spielen Traumata aller Art eine wichtige Rolle, vor allem in den ersten Lebensjahren. Insbesondere zeitweilige oder dauernde Trennung von wichtigen Bezugspersonen ist die Ursache tiefgreifender Verunsicherung. Sexueller Missbrauch spielt wahrscheinlich eine der Häufigkeit nach eher untergeordnete Rolle.

Trotz der großen Verdienste der Psychoanalyse für die Erforschung der Borderlinestörung war die klassische Psychoanalyse meist nicht in der Lage, durchgreifende therapeutische Verbesserungen für Borderline-Patienten zu erreichen. Die erfolgreichsten Therapiemethoden für Borderline-Persönlichkeiten kommen entweder aus der Verhaltenstherapie oder sie sind gegenüber der klassischen Psychoanalyse erheblich modifiziert.

Obwohl die Borderlinestörung in der Geschichte der Psychiatrie erst relativ spät Bedeutung gewonnen hat, handelt es sich keineswegs um eine seltene Störung: Man rechnet heute, dass etwa 2-5% der Bevölkerung an einer ernsthaften Borderlinestörung leiden, während 10-15% der Bevölkerung borderline-nahe Symptome zeigen, ohne ernsthaft krank zu sein. Demnach dürfte die Borderlinestörung die häufigste Persönlichkeitsstörung sein.

Zusammenhang zwischen Borderlinestörung und Falschbeschuldigungen wegen sexuellem Missbrauch

Im Zusammenhang dieser Website interessieren wir uns insbesondere für falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch und Falschbeschuldigungen. In den letzten Jahren gab es einige spektakuläre Fälle von falschen Missbrauchsbeschuldigungen, die aufgrund aussagepsychologischer Untersuchungen als nicht erlebnisbasiert zurückgewiesen wurden, und die von Personen ausgingen, welche die Diagnose einer Borderlinestörung erfüllten (siehe zum Beispiel Rückert).

Doch auch aus einem anderen Grunde ist die Befassung mit der Borderlinestörung auf dieser Website von Bedeutung: In der Beratungstätigkeit von False Memory Deutschland tauchen bei vielen Fallberichten bei den beschuldigenden Personen wichtige Einzelkriterien aus der obigen Liste auf. Diese sind natürlich nicht geeignet, einen gesicherten Zusammenhang zwischen Borderlinestörung und Falschbeschuldigung herzustellen, aber sie geben doch einen Hinweis darauf, dass die Borderlinestörung dabei eine wichtige Rolle spielen könnte.

Aufgrund der Symptome, die sie im täglichen Leben behindern, nehmen Borderline-Persönlichkeiten besonders häufig eine Psychotherapie auf. Dabei wird regelmäßig aufgrund der Unsicherheit des Selbstbildes der Borderline-Persönlichkeit (Kriterium 3) der Therapeut zu einer wesentlichen Lebensstütze, die oft idealisiert wird und deren Meinung außerordentlich einflussreich ist. Trifft eine Borderline-Persönlichkeit auf einen Therapeuten, der davon überzeugt ist, dass viele oder alle Probleme der Patienten auf sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen sind, so kann die ausgeprägte schwarz-weiß-Dichotomie der Borderline-Persönlichkeit (Kriterium 2) dazu führen, dass bisher idealisierte Bezugspersonen, vor allem der Vater, in kürzester Zeit zum Verbrecher abgewertet und zum Schwarzen Peter für sämtliche Lebensprobleme werden.

In manchen Fällen ist unklar, ob es sich um falsche Erinnerungen oder um absichtliche Falschbeschuldigungen handelt. Beschuldigungen aufgrund falscher Erinnerungen und absichtliche Falschbeschuldigungen sollten sich eigentlich logisch ausschließen. Doch diese Logik gilt nicht immer für Borderline-Persönlichkeiten. Aufgrund dissoziativer Symptome (Kriterium 9) kann eine Borderline-Persönlichkeit zeitweilig genau wissen, dass es keinen sexuellen Missbrauch gegeben hat, zu anderen Zeiten aber davon überzeugt sein. Auch kann die Wut (Kriterium 8) auf den aktuellen Bösewicht (Kriterium 2) eine bewusste Falschbeschuldigung gerechtfertigt erscheinen lassen. Auch Psychiater können das häufig nicht oder nur mit speziellen Methoden unterscheiden.

Literatur zur Borderlinestörung

Was ist eine posttraumatische Belastungstörung?Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung)

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