Ein Vierteljahrhundert nach den „memory wars“, was hat sich geändert?

Die folgenden Seiten zu wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Phänomen der falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch sind heute, mehr als eine Dekade nach ihrer ursprünglichen Veröffentlichung, erstaunlich aktuell geblieben. Selbstverständlich ist das eine oder andere hinzugekommen und die Seiten wurden aktualisiert, doch der größte Teil der ursprünglichen Darstellung ist nach wie vor gültig. Und wir wissen auch, woran das liegt.

Der amerikanische Psychiater Paul McHugh verkündete Anfang des Jahrtausends:

„Die memory wars sind vorbei. Sie sind entschieden. Die wissenschaftliche Position hat sich durchgesetzt.“

Trotzdem beobachten wir heute nach wie vor, und vielleicht sogar mehr als je zuvor, dass falsche Erinnerungen in Psychotherapien erzeugt werden. Was ist da schiefgegangen? Hatte McHugh sich so gründlich geirrt?

Nein, McHugh hatte Recht. Denn er hat niemals behauptet, dass sich die klinisch-therapeutische Praxis geändert hat. Was aber die wissenschaftliche Auseinandersetzung betrifft, so ist seine Feststellung richtig.

Als die Seiten zu Wissenschaft im Jahre 2012 zusammengestellt wurden, ging es um die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zum größten Teil aus den USA der 90-er Jahre stammten. Im Kern der damaligen Auseinandersetzung stand die naturwissenschaftlich-psychologische Frage: Können Erinnerungen an Traumata automatisch so verdrängt oder abgespalten werden, dass sie für das betreffende Individuum vollkommen unzugänglich sind, aber trotzdem mit entsprechender Bemühung wieder ins Gedächtnis gebracht werden? Was Paul McHugh damit meinte, dass die „memory wars“ entschieden seien, war die Tatsache, dass diese Verdrängungen und dissoziativen Amnesien nicht nachgewiesen werden konnten, während die klassische Position der Gedächtnisforschung, dass Erinnerungen an traumatische Situationen besonders gut in Erinnerung bleiben, bestätigt wurde.

Dass diese wissenschaftliche Frage als entschieden angesehen wurde, zeigt sich auch in der Tatsache, dass sie in der naturwissenschaftlich-psychologischen Forschung nicht mehr von Interesse war. Der Psychiater Harrison Pope hat eine Untersuchung zu Veröffentlichungszahlen erstellt und dabei festgestellt, dass Studien zu dem Thema der traumatischen Amnesie seit den 90-er Jahren stark abgenommen haben. Das Thema ist wissenschaftlich geklärt und nicht mehr wichtig. In den 10 Jahren von 2011 bis incl. 2020 gab es nur 89 Arbeiten zu „dissoziativer Amnesie“, während die Zahl der Arbeiten zu anderen psychischen Störungen 30- bis 200-fach größer war.

Aber es gibt auch in den letzten Jahren immer wieder wichtige Forschungsergebnisse zu falschen Erinnerungen, doch sind die Themenstellungen nicht mehr so sehr naturwissenschaftlich-psychologisch, sondern soziologisch. Der englische Psychologe Lawrence Patihis und ein Team von weiteren Forschern stellten 2014 die Frage, ob die „memory wars“ wirklich vorbei seien, und zeigten darin auf, dass ein erheblicher Gegensatz zwischen den Überzeugungen von Wissenschaftlern und klinischen Praktikern herrscht. Ein Meilenstein in der Forschung der letzten Jahre ist die Befragung großer Zahlen repräsentativ ausgewählter Personen in den USA, die Patihis zusammen mit dem amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Mark Pendergrast durchgeführt hat. Sie stellten darin fest, dass eine riesige Zahl von Personen in Psychotherapien sich an sexuellen Missbrauch erinnert hatte, der ihnen vor Aufnahme der Therapie nicht bekannt war. In einer Hochrechnung auf die Bevölkerung der USA ergaben sich ca. 9 Millionen Fälle! Eine analoge Studie in Frankreich ergab prozentual nur halb so viele Fälle, aber auch das ist eine Millionenzahl. Eine Studie in weiteren europäischen Ländern ist in Arbeit. Da man davon ausgehen muss, dass ein großer Teil dieser Fälle auf therapeutisch erzeugten falschen Erinnerungen beruht, kommt man zu der Abschätzung, dass ca. 20% der Erinnerungen an erlebten sexuellen Missbrauch auf falschen Erinnerungen beruhen dürften. Genaueres wird man wissen, wenn die europäische Studie fertig ist.

Die „memory wars“, so wie Paul McHugh sie verstand, sind zwar vorbei und entschieden. Doch es gibt heute eine nicht minder kontrovers geführte Auseinandersetzung: Es ist der Streit um die mediale Deutungshoheit. Dabei zeigt sich: Auf eine sorgfältig wissenschaftlich argumentierende Stimme, die vor der therapeutischen Erzeugung falscher Erinnerungen warnt, kommt eine Vielzahl von Stimmen aus der klinischen Traumatherapie mit der Behauptung: Wir erleben doch ständig das Auftauchen verdrängter oder abgespaltener Erinnerungen. Dabei spielt eine Entwicklung ganz wesentlich mit, die erst in diesem Jahrtausend Bedeutung erlangt hat: Das Vordringen der sozialen Medien. Wissenschaftliche Dinge sind zu unverständlich und zu sperrig, um in diesen Medien ein Echo zu finden, während sensationelle Berichte über schlimmsten Missbrauch bis hin zu den verrücktesten Verschwörungstheorien vieltausendfach widerhallen.

Ein letzter Punkt: Wir gehen zwar davon aus, dass Traumatherapeuten in der weitaus überwiegenden Zahl ihre Therapien mit der festen Überzeugung führen, das Beste für ihre Patienten zu tun. Bei größeren Organisationen oder therapeutischen Lobbyorganisationen sind wir jedoch weniger sicher, dass die exzellenten Verdienstmöglichkeiten durch langdauernde Traumatherapien, welche die Existenzgrundlage der Traumatherapie sind, keine Rolle spielen.