Steller, Max: Nichts als die Wahrheit?

München 2015, 286 Seiten, ISBN 978-3-453-20090-6

Max Steller gilt als der Nestor der Aussagepsychologie und forensischen Psycholgie. Er war der erste Hochschulprofessor, der diese Disziplin in Deutschland lehrte. Auch die amerikanische Psychologie, von der wir meist annehmen, dass sie der europäischen vorauseilt, musste die Grundprinzipien einer wissenschaftlich fundierten Aussagebeurteilung erst von Steller lernen. Heute ist er emeritiert und hat dieses Buch geschrieben.

Das — ebenfalls in dieser Literaturübersicht referierte und sehr lesenswerte — Buch seiner Kollegin Renate Volbert verlangt vom Leser eine anspruchsvolle Beschäftigung mit den wissenschaftlichen und juristischen Grundprinzipien der Aussagebeurteilung. Im Gegensatz dazu ist Stellers Buch leicht zu lesen, und sein Zugang zu den wissenschaftlichen Grundlagen, den er vermittelt, ist für jeden Leser mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar.

Es geht darin um alles, was die Wahrheitsfindung im Spannungsfeld zwischen Psychologie und richterlicher Urteilsfindung betrifft. Im Vordergrund stehen dabei Sexualstraftaten, weil in diesem Bereich meist nur ein Zeuge vorhanden ist, der gleichzeitig Opferstatus beansprucht, und weil dessen Aussage oft das einzige Kriterium ist, das über Wohl und Wehe des Beklagten entscheidet.

In zwanzig kurzen Kapiteln stellt Steller eine Vielzahl von (anonymisierten) Fällen aus seiner Gutachterpraxis vor. Auch die Grundsätze seiner Arbeit werden an Fällen erläutert. Dabei gelingt es ihm immer wieder, den Leser zu überraschen. So gibt es Berichte, bei denen der Leser sich gleich zu Anfang sagt: „Typischer Fall einer Scheinerinnerung“. Doch die Sorgfalt des Merkmal für Merkmal abwägenden Psychologen lässt sich nicht so leicht irreführen und am Ende ist der Leser seinen eigenen Vorurteilen auf den Leim gegangen.

Steller betont zwar am Ende des Buches, dass er in der Mehrzahl der von ihm begutachteten Fälle die Aussagen der Opferzeugen bestätigen konnte, doch die Mehrzahl der von ihm berichteten Fälle gehen in die gegenteilige Richtung. Und das begründet Steller: Die ideologische Übertreibung des Opferschutzes, der „Missbrauch mit dem Missbrauch“ führt zu schwerwiegenden Fehlern, die vermeidbar sind. Er verspricht sich von seinem Buch eine aufklärende Wirkung und einem verantwortungsvollen Umgang mit der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation in Strafprozessen.

Im Laufe des Buches lernt man alle auf diesem Gebiet wesentlichen Tatsachen und Einflüsse kennen: Die Unschuldsvermutung des Strafrechts und die Entsprechung in der Ausgangshypothese des Gutachters, die Kennzeichen wahrer und bewusst erlogener Aussagen, die Einflüsse der Vernehmungsmethoden und der Vorurteile bei Polizei und Gericht, die Wirkung psychischer Störungen beim Opferzeugen und viele weitere Gesichtspunkte.

Was das Buch besonders für False Memory Deutschland interessant macht, ist die breite Aufmerksamkeit, die Steller sämtlichen suggestiven Einflüssen auf die Aussagen widmet. Suggestive Einflüsse sind für ihn der Dreh- und Angelpunkt von Falschaussagen, die von den vermeintlichen Opfern mit voller Überzeugung vorgetragen werden. Und suggestive Einflüsse findet Steller überall: In der Vernehmung von Kindern, in der Arbeit von selbsternannten Hobbyermittlern, in Psychotherapien aller Art. Einen besonders fruchtbaren Nährboden für Suggestion sieht er in der ideologisch-missionarischen Psychotraumatologie. Obwohl Steller mit der Nennung von Namen sehr vorsichtig ist, im diesem Zusammenhang nennt Steller sogar Namen von Personen, auf die pseudowissenschaftliche Positionen zurückgehen. Er benennt die Zirkelschlüsse der Psychotherapeuten bei fehlender Erinnerung (wenn keine Erinnerung da ist, muss etwas dagewesen sein!) oder bei der Fehldiagnose einer posttraumatischen Belastungstörung (wir finden die Symptome einer PTBS, also muss es ein Trauma geben).

Noch 1996 glaubte Steller, durch rationale Prüfmethoden sei man in Deutschland gegen die aus USA kommende Welle von Scheinerinnerungen infolge von „recovered memory“-Methoden gewappnet. Im Jahre 2004 musste er erkennen, dass das ein gründlicher Irrtum gewesen war, und dass diese Welle uns auch erreicht hatte. Wie man sieht, ist das Buch von Steller die wohl wichtigste Neuerscheinung der letzten Jahre für das Anliegen von False Memory Deutschland.

Was das Buch von Steller für den Referenten besonders wichtig macht, ist noch ein ganz anderer Gesichtspunkt: Steller lässt zwar an seiner Leidenschaft für die Ermittlung der Wahrheit keinen Zweifel, doch dahinter steht immer eine engagierte menschliche Zuwendung zu sämtlichen Betroffenen der geschilderten und oft sehr schmerzlichen Vorgänge.