Spanos, Nicholas P.: Multiple Identities & False Memories: A Sociocognitive Perspective

Washington 1996, ISBN: 978-1-55798-893-5

Spanos war Psychologe und Wissenschaftler. Sein Forschungsgebiet war die Hypnose. Sein großes Verdienst ist es, ein wissenschaftliches Buch geschrieben zu haben, das keine Konzessionen an eine populärwissenschaftliche Darstellung macht, ohne jemals in einen schwer lesbaren Jargon zu verfallen. Seine Darstellung basiert immer auf Originalarbeiten, die meist kurz besprochen werden. Wie fundiert seine Darstellung ist, zeigt sich u. A. auch an dem entsprechend umfangreichen Apparat von Literatur-, Sach- und Personenregister.

Betrachtet man die Entstehungszeit des Buches – das Manuskript lag fertig vor, als Spanos Mitte 1994 tödlich verunglückte – so ist es noch tief im Nebel der frühen „memory wars“ geschrieben. Zu manchen seiner Betrachtungen liegen heute wissenschaftliche Ergebnisse vor, die er noch nicht zitieren konnte. Doch insgesamt ist seine Analyse von einer Differenziertheit und Scharfsinnigkeit, die heute noch ihresgleichen sucht.

In 4 Hauptabschnitten geht Spanos auf Hypnose, Erzeugung falscher Erinnerungen, multiple Persönlichkeit als interkulturelles Phänomen und als moderne Krankheit ein.

Im Abschnitt Hypnose zeigt Spanos, was diese Methode leisten kann und was nicht. Er räumt dabei mit vielen Legenden auf. Er zeigt beispielsweise, dass der in Hypnose gegebene Befehl, etwas zu vergessen, zwar offensichtlich befolgt wird, dass aber mit trickreichen Versuchen gezeigt werden kann, dass die Inhalte nicht wirklich vergessen wurden. Die Reaktion folgt demnach einer sozialen Erwartung. Spanos stellt auch fest, dass bereits seit den 60er Jahren im Gegensatz zur landläufigen Meinung bewiesen wurde, dass in der Hypnose keine erhöhte Suggestibiltät besteht. Besonders deutlich wird Spanos zum Thema hypnotische Gehirnwäsche. Sämtliche wissenschaftlichen Studien zeigen, dass man mit Hypnose (und auch ohne Hypnose) die Meinung und das soziale Verhalten von Menschen zwar stark beeinflussen kann. Man kann sie aber nicht in Automaten verwandeln, die auf bestimmte Trigger in definierter Weise reagieren. Die entsprechenden Versuche des CIA wurden dementsprechend auch erfolglos abgebrochen.

Im Abschnitt zu Erinnerungen zeigt Spanos, dass unter Hypnose gewonnene Erinnerungen keine höhere Zuverlässigkeit zeigen, als ohne Hypnose gewonnene, dass jedoch die Fragestellung entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis hat. Durch geeignete Fragestellung kann man daher falsche Erinnerungen provozieren. Erinnerungen durch hypnotische Altersregression konnten in kontrollierbaren Fällen als falsch erwiesen werden. Hypnotisierte und nicht hypnotisierte Probanden konnten durch entsprechende Fragestellung in vergleichbarer Häufigkeit dazu gebracht werden, sich an (nachweislich falsche) Ereignisse in den Tagen unmittelbar nach ihrer Geburt zu erinnern. Spanos untersucht die vorliegenden Arbeiten zur Bestätigung von wiedergewonnenen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch und kommt (wie auch Pope und McNally) zum Ergebnis, dass die vorliegenden Studien nicht zuverlässig sind.

Dissoziation und multiple Persönlichkeiten verfolgt Spanos durch Geschichte und Kulturen in Phänomenen wie Besessenheit, rituelle Trance, hysterische Dissoziation. Auch hier stellt Spanos fest, dass diese Funktionen in erster Linie sozialen Gesetzen und Erwartungen entsprechen.

Das gleiche findet Spanos bei multiplen Persönlichkeiten. Er stellt diese Zustände als „self enactments“ (Rollenspiele) dar, die erlernt werden. Beim Erlernen der Multiplizität spielen soziale Faktoren wiederum die entscheidende Rolle, so die Erwartungen des Therapeuten, Gruppendruck in Therapiegruppen, Einfluss der Medien und der entsprechenden Literatur. Die bei den Therapeuten multipler Persönlichkeiten häufig hergestellte Verbindung mit rituell-satanischem Missbrauch wird von Spanos als Fantasie zurückgewiesen. Seine Hypnose-Untersuchungen zeigen klar, dass die angebliche „Programmierung“ in diesen Kulten nicht existieren kann. Jedoch sind diese Fantasien in hohem Maße sozial legitimiert, z. B. durch Feminismus, christliche Sekten, politische Verschwörungstheorien.

Spanos verneint keineswegs die Existenz dissoziativer Phänomene, im Gegenteil, er sieht sie in verschiedenster Ausprägung in vielen Kulturen und Situationen. Seine Schlussfolgerung ist, dass multiple Persönlichkeiten nicht als Krankheitsbild MPD, sondern nur als Phänomen in einer spezifischen soziokulturellen Situation verstehbar sind. Ein sehr wertvolles, anspruchsvolles und in seiner Analyse nach wie vor aktuelles Buch.