Schalleck, Martha, Rotkäppchens Schweigen: Die Tricks der Kindesmissbraucher und ihrer Helfer

2006, ISBN 978-3-936544-80-0

Eins muss man der Autorin ja lassen: Sie war fleißig. Sie hat ein Buch mit über 600 Seiten verfasst und der umfangreiche Anmerkungsapparat und das Literaturregister machen auf den ersten Blick einen hervorragenden Eindruck. Bei genauerer Lektüre aber vergeht die Freude. Die Autorin ist Autodidaktin. Das hat sie mit der Autorin von Trotz allem gemeinsam. Doch im Gegensatz zu diesem Buch, das Wissenschaftlichkeit ausdrücklich nicht beansprucht, tut Frau Schallack in ihrem Buch so, als sei es wissenschaftlich. Nur kritische Leser, die den Zitaten der Fußnoten nachgehen, werden sehen, dass das nicht der Fall ist.

Das Buch ist eines der wirklich gefährlichen. Es gibt wohl kein Buch in deutscher Sprache, was so darauf fixiert ist, dass jede Missbrauchsbeschuldigung zu Recht besteht, dass jeder Beschuldigte wirklich ein Täter und die False Memory Syndrome Foundation (FMSF) eine Täterschutz-Organisation ist. Und diese Thesen werden mit großer Eloquenz über Hunderte von Seiten ausgebreitet.

Frau Schalleck zieht die Urteile im McMartin-Vorschulprozess, in dem Prozess zum Wormser-Missbrauchsskandal und der von der Zeit-Redakteurin Rückert erreichten Prozess-Wideraufnahme im Falle „Lena“ als aufgrund „dubioser“ Sachverständigengutachten ergangen in Zweifel. Sie schreibt nicht, es seien Fehlurteile, aber ihre Darstellung lässt wenig Zweifel daran, dass sie das meint.

Natürlich wird das Märchen vom rituell-satanischen Missbrauch und von der Opferprogrammierung durch Mind-Control-Methoden hier wieder aufgewärmt, die Autorin widmet dem Thema fast hundert Seiten, zwanzig Jahre nachdem die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden diese Legenden widerlegt haben. Schauerliche Stories werden erzählt ohne viel Belege, und wenn sie belegt werden, dann durch die sattsam bekannten Quellen der Verschwörungstheoretiker.

Weitere hundert Seiten sind der „Anti-Hilfs-Front“ gewidmet, worunter jeder zu verstehen ist, der falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch auch nur für möglich hält. Dabei kommt die Autorin natürlich nicht darum herum, sich mit den Forschungen zur Trauma-Erinnerung auseinanderzusetzen. Das tut sie auf ihre Weise, indem sie uralte Argumente aus den amerikanischen Memory Wars wieder hochholt und die ganze Liste wissenschaftlich fragwürdiger Therapeutenliteratur aus den 80er Jahren und dem Anfang der 90er Jahre zum Zeugen benennt. Dabei bringt sie dann auch die FMSF in Zusammenhang mit den (übrigens gescheiterten) Mind-Control-Projekten des CIA.

Interessant wird es, wenn die Autorin wissenschaftlich ernst zu nehmende Literatur zitiert. Wenn McNally nach einer viele Seiten langen Untersuchung zu Quellen über rituell-satanischem Missbrauch zum Ergebnis kommt, dass alle diese Quellen nur eines aufzeigen, nämlich die Realität falscher Erinnerungen, so genügt es der Autorin, ohne jeden Beleg zu behaupten, was er schreibt sei Pseudo-Wissenschaft und fehlerhafte Logik. An anderen Stellen werden Zitate wissenschaftlicher Autoren aus dem Zusammenhang gerissen und in anderem Zusammenhang benutzt.

Auf über hundert Seiten „beweist“ die Autorin, dass es falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch gar nicht gibt. Nach einem Beweis in wissenschaftlichem Sinne sucht man allerdings vergeblich. Sie behauptet über wissenschaftliche Arbeiten, sie seien unlogisch und stellt ihnen als „Gegenbeweis“ völlig subjektive interpretierte Erfahrungen von Therapeuten oder Therapieopfern gegenüber. Besonders gerne zieht die Autorin Ergebnisse der Hirnforschung heran. Prüft man diese genauer, so stellt man fest, dass sie Hirnforschungen auch in ihrem eigenen Sinne interpretiert, Interpretationen, die in den zitierten Arbeiten meist gar nicht vorhanden sind. Zur Frage, ob Missbrauch verdrängt bzw. unzugänglich vergessen werden kann, zitiert sie alte Klassiker zu diesem Thema, deren wissenschaftliche Relevanz längst widerlegt ist.

Das Buch erweckt den Anschein eines wissenschaftlichen Werks und will wohl als solches verstanden werden. Doch in ihrem ideologischen Eifer geht die Autorin in eine Falle, die bei ideologisch motivierten Schriften häufig ist: Sie funktioniert alle Gegenargumente sofort zum „Beweis“ vieler ihrer Thesen um, die damit nicht mehr falsifizierbar sind. Auf diese Weise werden aus ihren Thesen Axiome und jede Basis wissenschaftlicher Diskussion wird verlassen. Doch die Autorin kann sich wohl darauf verlassen, dass die meisten ihrer Leser die wissenschaftlichen Fehler des Buches nicht merken werden. Wer kümmert sich schon um Grundfragen wissenschaftlicher Beweisführung oder verfolgt die einzelnen Fußnoten?

Das Schlimmste an diesem Buch ist, dass es eine Front suggeriert, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt: Es ist die Front zwischen den heldenhaft kämpfenden Missbrauchsopfern, ihren Therapeuten und den angeblich korrekten Wissenschaftlern auf der einen Seite, und den Tätern, den False-Memory-Protagonisten, den angeblichen Pseudo-Wissenschaftlern und verschworenen Organisationen im Verbund mit dem CIA auf der anderen Seite. Die eine Seite sieht alles richtig und kämpft für das Gute, die andere Seite versucht alles zu vernebeln und zu stören, um die Täter zu schützen.

Dass in Wirklichkeit diejenigen, die die Erzeugung falscher Erinnerungen beklagen, ebenso den tatsächlichen sexuellen Missbrauchs beklagen und bekämpfen, weil ja gerade dessen ideologische Übersteigerung zu falschen Erinnerungen führt, das kann nicht sein, weil es nicht sein darf! Auch dass verantwortungsbewusste Therapeuten sich der Gefahr der Erzeugung falscher Erinnerungen sehr bewusst sind, und dass es auf beiden Seiten der von der Autorin konstruierten Front diejenigen gibt, die sich sorgfältig mit den Argumenten der anderen Seite auseinandersetzen, weil es Ihnen auf die Wahrheit ankommt, und nicht auf den Sieg dieser oder jener Ideologie, kommt dabei unter die Räder.

Dieses Buch ist geeignet, leichtgläubigen oder unkritischen Lesern ein vollkommen falsches Weltbild zu suggerieren und zu jedem denkbaren Zweifel an diesem falschen Weltbild das geeignete Gegenargument zu liefern.