Lotter, Cornelia: Durch die Hölle

2016, 224 Seiten, ISBN 978-1539068136

Vielleicht wundern sich manche Leser, dass auf dieser Website in der Literatur zu falschen Missbrauchserinnerungen ein Roman auftaucht. Doch dieser Roman ist wirklich ein wichtiges Buch, und man könnte ihn mit gleichem Recht auch in die Gattung Dokumentation einordnen.

Der romanhafte Teil der Handlung ist ein – nur scheinbar fiktiver ­- Fall der therapeutischen Erzeugung falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Fiktiv daran sind zwar die Personen und die an sie geknüpfte spannende und ergreifende Handlung. Absolut real jedoch ist die Struktur der Ereignisse und der Schrecken, die alle Beteiligten treffen. Noch realer sind die vielen Einzelfälle, die mehr oder weniger ausführlich am Rande beschrieben werden, denn dabei handelt es sich um echte Fälle, die bei False Memory Deutschland genau bekannt sind, die aber natürlich
anonymisiert wurden.

Die Protagonisten des Buches sind ein Vater, Hans-Martin, seine Frau Ingrid, ihre gemeinsame Tochter Ann-Marie und die Therapeutin und Heilpraktikerin, Frau Neumann. Ann-Marie, eine erwachsene Lehrerin, sucht die Psychotherapie bei Frau Neumann auf, weil sie sich von ihrem Beruf überfordert und von niemandem geliebt fühlt. Subtil die Schilderung der ersten Therapiestunden, in denen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut wird. Erst dann fällt, fast beiläufig, der Gedanke, ob sexueller Missbrauch eine Rolle gespielt haben könnte. Ann-Marie weist diesen Gedanken zurück, ist aber trotzdem davon betroffen und beginnt darüber zu grüblen. Im Laufe der Zeit insistiert die Therapeutin immer stärker darauf, dass Ann-Marie sich bemühen muss, die Missbrauchserinnerung wiederzugewinnen. Schließlich, nach einigen düsteren Träumen und Vorstellungen, ohne wirklich konkrete Erinnerungen, lässt sich Ann-Marie dazu bringen, ihren Vater zu beschludigen.

Für Hans-Martin bricht eine Welt zusammen. Er geht durch eine schreckliche Zeit. Der Gedanke an seine Tochter verfolgt ihn auf Schritt und Tritt. Aber auch für Ingrid beginnt etwas Furchtbares: Sie steht zu ihrem Mann und kann sich nicht vorstellen, dass er schuldig ist, doch im Hintergrund lauert bei ihr ständig der Gedanke: Wie, wenn wirklich etwas dran ist?

Sehr realistisch die Schilderung der suggestiven Einflussnahme von Frau Neumann: Die Versuche, bei Ann-Marie Vorstellungsbilder zu erwecken, die Empfehlung des Buches „Trotz allem“ als therapiebegleitende Lektüre, die Vermittlung einer Therapiegruppe, deren Mitglieder ausschließlich Frauen sind, die wirklich missbraucht wurden, fest glauben oder auch nur vorgeben, missbraucht worden zu sein.

Frau Lotter hat sorgfältig recherchiert. Alle Bezüge auf wissenschaftliche Erkenntnisse sind solide. Im Verlauf des Buches werden im Text immer wieder reale Bücher erwähnt, die sich auch auf unserer Literaturliste befinden, so Crombag/Merckelbach, Yapko und eben auch Bass/Davis. Der Opferhilfsverein Wildwasser wird ebenso erwähnt, wie False Memory Deutschland.

Letztlich lässt die Autorin ihre Handlung versöhnlich enden: Ann-Marie entwickelt Zweifel und distanziert sich von den therapeutischen Maßnahmen, die ihr eigentlich helfen sollten, und die sie in großes Unglück gestürzt haben. Der bleibende Schaden ist übersehbar und vielleicht auch heilbar. Wir wissen leider, dass dieses versöhnliche Ende nur wenige wirklichen Fällen beschieden ist. Und auch das klingt im Buch an.

Frau Lotters Buch ist wichtig für alle, die mehr als eine nur oberflächliche Orientierung über das Thema der therapieinduzierten falschen Erinnerungen und ihrer Folgen haben wollen. Verdienstvoll ist es, dieses Thema in eine Form zu bringen, die spannend genug ist, um auch Leser zu erreichen, die Bücher mit fachlicher Ausrichtung verschmähen würden.