Um meinen Hintergrund besser zu verstehen und aufzuzeigen, wie ich in eine Psychotherapie geriet, die großen Schaden angerichtet hat, muss ich etwas ausholen.
Ich war das ältere von zwei Kindern eines viel beschäftigten Vaters und einer überforderten Mutter. Vor allem durch meine Mutter erfuhr ich regelmäßig körperliche und emotionale Misshandlungen. Es dauerte einige Jahre, bis ich verstand, dass die meisten Familien wohl nicht so miteinander umgehen wie meine. Ich liebte meine Mutter und meine Familie trotz allem, sie waren nun mal meine Familie. Aber die Erlebnisse hinterließen nichtsdestotrotz Spuren. Schon im Grundschulalter verletzte ich mich heimlich selbst und als Jugendliche rutschte ich immer wieder in schwere Krisen, war suizidal und fügte mir phasenweise unzählige Schnittwunden zu. Ich begann eine Therapie, machte Abitur, ging danach in eine Psychosomatische Klinik, was mir zwar half, aber leider nicht lange. Es folgte eine Odyssee aus ambulanter Therapie und monatelangen stationär psychiatrischen Behandlungen und Händen voll Medikamenten – aber nichts schien so richtig zu helfen. Meine Ausbildung litt unter den langen Klinikaufenthalten und musste schließlich abgebrochen werden.
Ich stellte mir immer wieder die Frage warum? Warum geht es mir so schlecht? Warum hilft mir nichts? Ich wusste, dass das Leben bei meiner Familie mir nicht guttat, und mir war schon mehrfach geraten worden, in eine therapeutische Wohngemeinschaft zu ziehen, aber das wollte ich nicht.
Eine Therapeutin sagte damals zu mir: ich weiß jetzt, was Sie haben – das ist eine kPTBS, eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Und Sie haben definitiv kein Borderline. Eine PTBS, das wunderte mich, ich habe doch nie was außergewöhnlich Schlimmes erlebt! Sie erklärte mir, dass eine kPTBS dann entsteht, wenn über einen langen Zeitraum belastende Situationen bestehen, und dass die Erlebnisse, die ich in der Kindheit und zum damaligen Zeitpunkt noch täglich in meinem Zuhause erlebte so eine kPTBS auslösen könnten. Nach etwas Einlesen und Nachdenken leuchtete mir das ein.
Ein, zwei Jahre später war es dann doch so weit, ich zog von zu Hause aus in eine weit entfernte Stadt und begann ein Studium. Der Auszug veränderte viel in meinem Leben, ich hatte mich schon einige Zeit zuvor nicht mehr selbst verletzt, auch die chronische Suizidalität verschwand nun allmählich, aber andere Probleme blieben oder kamen neu dazu (z.B. die Depressivität, die Überforderung durch mein Leben an sich, das Gefühl, alles ist unwirklich und wie in einem Film, die Schwierigkeit meinen Alltag zu bewältigen usw.) Bei einer Kurzzeittherapie in der neuen Stadt berichtete ich der Therapeutin von einer „Stimme“ in meinem Kopf, die einen eigenen Namen trug, und dass ich allgemein sehr viele Selbstgespräche führe. Daraufhin sagte sie zu mir „haben Sie schonmal was von dissoziativer Identitätsstörung gehört?“ Ja, hatte ich. Nichts Gutes. Ich erinnerte mich an eine Doku, die wir in der Ausbildung zu diesem Thema gesehen hatten, und an eine Bekannte aus der Psychiatrie, die mir nach längerer Bekanntschaft eröffnet hatte, dass sie eine DIS habe. Sie war nicht in der Lage einer Arbeit nachzugehen und musste regelmäßig stationär behandelt werden. Und natürlich hatte ich auch schon darüber gelesen. Das machte mir alles Angst. Ich kann unmöglich so eine Krankheit haben!… Oder?… Nachdem ich ein paar Monate über dieses Thema nachgedacht und nachgelesen hatte, bekam ich mehr und mehr das Gefühl, dass das ja vielleicht doch passen könnte. Schließlich redete ich extrem viel mit mir selbst und wusste oft gar nicht so richtig, worum es dabei ging. Manchmal erzählte ich mir auch einfach von meinem Tag oder von einem Erlebnis vor fünf Jahren. Als Kind hatte ich mich immer in eine Art Paralleluniversum geflüchtet, in eine heile Welt, in der ich einen anderen Namen trug, und auch „Person“ geisterte hin und wieder durch meinen Kopf. Und manchmal, wenn ich nachts wach lag und nicht schlafen konnte, fragte ich mich, warum, und es kam eine „Antwort“. Nun wollte ich es also wissen. Als ich zum Erstgespräch bei einer Traumatherapeutin (Verhaltenstherapie mit Traumatherapeutischer Weiterbildung) ging, besprach ich mit ihr, erstmal eine umfassende Diagnostik bezüglich Trauma machen zu wollen. Die ersten fünf oder sechs Sitzungen lang arbeiteten wir uns daraufhin durch strukturierte Interviews und zu Hause beantwortete ich Fragebögen – und heraus kam: DIS (und kPTBS). Zu diesem Zeitpunkt war das schon gar keine Überraschung mehr.
(Zum Verständnis: Was ist eine DIS? DIS steht für Dissoziative Identitätsstörung, diese Störung entsteht durch traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit. Um das Erlebte auszuhalten, spaltet sich die Persönlichkeit in verschiedene Anteile. Einzelne Persönlichkeitsanteile können dann beispielsweise traumatische Erinnerungen tragen, während andere Anteile davon nichts wissen. Laut Theorie kann sich so ein ganzes System von Persönlichkeitsanteilen mit jeweils unterschiedlichen Neigungen, Ansichten und Charakterzügen ausbilden. Einzelne Persönlichkeiten können sich untereinander kennen, andere bleiben im Verborgenen.
Mit Einführung des neuen Diagnosemanuals ICD-11 wird inzwischen auch die sogenannte partielle DIS, kurz pDIS, als Diagnose neu aufgeführt. Bei einer pDIS gibt es ebenfalls verschiedene Persönlichkeitsanteile, allerdings übernimmt hier meist ein Persönlichkeitsanteil überwiegend die Kontrolle über das Handeln der betroffenen Person und es kommt im Vergleich zur DIS nicht oder seltener zu kompletten Persönlichkeitswechseln, und auch Amnesien durch wechselnde Persönlichkeitsanteile sind seltener. Die Diagnosen sind in der Fachwelt umstritten.)
Die Therapeutin begann mit ihrer Arbeit – dabei ging es viel um Probleme im Alltag, meine Kindheit und die Befindlichkeiten verschiedener „Persönlichkeitsanteile“ und wie diese sich gegenseitig im Weg stehen. War die Idee der Diagnose zu Beginn noch ein Schock und ein Ding der Unmöglichkeit, so hatte ich jetzt endlich eine Erklärung für die vielen erfolglosen Therapien. Daran muss es gelegen haben, dass einfach nicht all meine „Anteile“ beteiligt waren, das muss doch die Lösung sein. Im Laufe der Therapie ging es mir mit der Zeit immer schlechter und meine Therapeutin schlug vor, in eine Traumaklinik zu gehen, die sich mit der Behandlung von Dissoziativer Identitätsstörung auskennt. Das tat ich und dort wurde mein Leben völlig auf den Kopf gestellt.
Zu Beginn fühlte ich mich in der Klinik richtig und angenommen. Ich war in einer spezialisierten Gruppe, in der alle Patientinnen eine DIS oder pDIS hatten und erstmal hatte ich das Gefühl, endlich verstanden zu werden, denn die anderen Patientinnen schilderten ähnliche Probleme in ihrem Alltag wie ich. Sie hatten z.B. Schwierigkeiten beim Einkaufen oder Probleme mit Entscheidungen und ihren unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen. Auch meine anderen Symptome, wie z.B. ein plötzliches nicht mehr erkennen des Weges, auf dem ich bin, obwohl ich diesen Weg tagtäglich fahre, das Gefühl, alles um mich herum ist seltsam fremd, wie in einem Film, oder plötzliche Phasen des verschwommen Sehens und andere Symptome wurden so ähnlich von meinen Mitpatientinnen berichtet. Einzig so richtig große Erinnerungslücken schien ich nicht zu haben. Sehr schnell nach Aufnahme in die Klinik begann meine Therapeutin in der Einzeltherapie an meiner Vergangenheit zu arbeiten. Ich machte eifrig mit, denn ich wollte ja endlich eine Verbesserung erzielen.
Wie sah das aus?
Ich bekam beispielsweise ein Arbeitsblatt mit einer schematischen Körpersilhouette von vorne und von hinten. Darin sollte ich alle Schmerzen und anderen Beschwerden, die ich hatte, eintragen. Alles was mir einfiel, sollte ich auf der Silhouette markieren. Ich habe mich pflichtbewusst intensiv mit diesem Arbeitsblatt beschäftigt. Da kam einiges zusammen – wahrscheinlich wäre das bei so ziemlich jedem so. Nun wurden einzelne Symptome herausgegriffen, teilweise als dissoziativ gewertet. Es wurden Fragen gestellt zu meinem Leben, zu meinen Eltern, zu meinen Anteilen. Mir wurde dringend angeraten, den Kontakt zu meiner Familie, den „Täterkontakt“ abzubrechen, da sonst keine Traumaarbeit möglich sei. Das Verhältnis zu meiner Familie war zu diesem Zeitpunkt ohnehin etwas angespannt. Ich schrieb meinen Eltern, dass ich für die Zeit der Therapie keinen Kontakt haben wollte. Daraufhin blockierte ich meine ganze Familie auf WhatsApp, Anrufe nahm ich nicht mehr entgegen. Das war ein harter und trotz allem auch schmerzhafter Schritt, der von mir verlangt wurde, ohne mich weiter diesbezüglich zu unterstützen.
Nun aber war der Weg frei für die Traumaarbeit. In den Gruppentherapien beschäftigten wir uns mit Themen wie der Kommunikation zwischen den einzelnen Persönlichkeitsanteilen und den Problemen, die das „viele Sein“ im Alltag verursacht. Aber es ging auch um sogenannte Programme, von Tätern induzierte Verhaltensweisen, die man einfach nicht zu unterbrechen vermag. In mir löste das immer ein seltsames, unangenehmes, geheimnisvoll-mystisches Gefühl aus. Auch Symptome wie die allgegenwärtige Amnesie waren ein großes Thema in der Gruppentherapie und unter den Patientinnen. In der Therapie herrschte die Grundhaltung, dass es mehr als eine*n Täter*in geben müsste, und es sich auch um Personen außerhalb der Familie handelt, die aber untereinander vernetzt sind. Auch mir wurde in der Einzeltherapie vermittelt, dass es vermutlich verschiedene Täter*innen gibt und ich mich sehr wahrscheinlich durch Amnesien an Täter*innen wie auch an Taten nicht erinnern könnte und es auch gut möglich sei, dass mir heute noch manchmal Dinge widerfahren, an die ich mich einfach nicht erinnern kann, weil ein anderer „Persönlichkeitsanteil“ anwesend war. Während einer Gruppensitzung ging es darum, was denn nun ein Symptom sei und was einfach normaler Teil des menschlichen Erlebens. In mir wuchs das leise Gefühl, dass viele sogenannte Symptome einfach überpathologisiert werden – manchmal weiß man eben beispielsweise nicht mehr, was man gestern gemacht hat oder worum es in der letzten Gruppensitzung ging. Ich wusste in der Schule selten noch, worum es in der letzten Geschichtsstunde ging – und war damit nie allein.
Auch in der Einzeltherapie ging es nun um meine Anteile und was sie vielleicht erlebt haben könnten. Auffällig war, dass ich immer mehr Anteile zu entdecken schien. Nach jeder Therapiesitzung sollte ich sagen, welcher Anteil heute da war, welche „cobewusst“ waren, also mitgehört haben (und dementsprechend keine Amnesie für diesen Zeitraum haben könnten). Ich gab mein Bestes, alles was man mir empfahl, auch zu tun, hörte z.B. Kinderlieder, um kindliche Anteile zu aktivieren, führte „Innenkonferenzen“ und schrieb auf, was sich in mir regte. Die Anteile sollten schreiben oder malen. Tatsächlich dauerte es nicht allzu lange, da tauchten die ersten Kritzelbilder auf, gemalt wie von einem Kind, oder Text in unsauberer Schreibschrift. Und parallel dazu kamen Bilder in mir hoch von schrecklichen Grausamkeiten, die mir angetan wurden, fast immer im Kontext extremster sexualisierter Gewalt. Ich war schockiert und völlig zerrissen, ich konnte das alles nicht einordnen. Der Satz der Therapeutin „es darf alles sein“ war da nicht gerade hilfreich. Sie fragte explizit nach. Wen können Sie da sehen? War das Ihr Vater? Kann einer der Anteile sagen, wo das war? Ich sah niemanden – entweder war es stockdunkel, ich trug eine Augenbinde oder die Täter waren maskiert. Viele der „Erinnerungen“ waren wie aus einer Beobachterperspektive. Ich äußerte Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Bilder. Wann soll das passiert sein? Nachts? Wer soll mich denn da hingebracht haben? Wer hätte davon wissen sollen? War mein Vater beteiligt? Sie fragte mich auch, ob es Anteile gibt, die ein Sprechverbot haben, und erklärte mir, dass diese Informationen in den Anteilen dissoziativ abgespalten sein können, dass man herausfinden müsse, ob es heute noch zu solchen Szenarien kommt. Ich war mir ziemlich sicher, dass es heute nicht mehr zu sowas kommt, doch sie sagte, es könnte auch dissoziiert sein. Im Entlassungsbrief wurde später der Verdacht auf sexuellen Missbrauch von frühester Kindheit bis heute beschrieben. Ich wurde mehrfach von der Therapeutin und der Pflege auf christliche Feiertage angesprochen, ob es mir an solchen Tagen schlechter ginge. Die Therapeutin wollte wissen, ob ich manchmal Verletzungen wie blaue Flecken hätte, von denen ich nicht wüsste, woher sie stammen. Und da wären ja noch die Körpersymptome. Ich war nach und nach immer unsicherer, was ich nun glauben sollte. Allein die Vorstellung, mein Leben ist nicht das, das ich kenne, sondern vielleicht kenne ich nur die Hälfte meines eigenen Lebens. Für mich war das ein Schock, ich war völlig verunsichert. Im Laufe der Therapie wurde herausgearbeitet, dass es „täterloyale“ Anteile gibt, die die anderen bestrafen, wenn die Therapie z.B. zu viel Information ans Licht bringt – oder den anderen Anteilen Redeverbote auferlegen und Zweifel sähen. Sie verleugnen die Traumata der anderen Anteile und man muss zusehen, dass man diese täterloyalen Anteile mit ins Boot holt, damit sie die Therapie und die traumatisierten Anteile nicht mehr sabotieren.
Eines Tages bekam ich eine Strafe dafür, dass ich mich in einer gesundheitlich wichtigen Situation um mich selbst gekümmert habe. Man versuchte mir verständlich zu machen, dass „mächtige“ und destruktive Anteile die Therapie sabotiert hatten. Ich war verzweifelt. Ich dachte ich hätte nun wirklich die Kontrolle verloren und irgendwelche täterloyalen oder traumatisierten Anteile sabotieren die Therapie. Mein ohnehin geringes Selbstbewusstsein hatte sich längst vollständig in Luft aufgelöst. Ich wusste nicht mehr, wem oder was ich nun glauben soll und was echt ist und was nicht. Meine langjährige Psychiaterin, bei der ich seit einer meiner ersten Psychiatrieaufenthalte in Behandlung bin, holte mich in einem Telefonat zurück auf den Boden der Tatsachen. Sie sagte mir, das sei kein Anteil, das wäre ich und ich hätte hier schon alles richtig gemacht, sie erkenne hier kein Problem.
Die Zweifel an meinen brutalen „Erinnerungen“ wurden lauter und ich hatte wie von Beginn an weiter das schreckliche Gefühl, entzweigerissen zu werden. Ich produzierte „Erinnerungen“ und malte erschreckende Bilder oder verhielt mich, wie ich mich noch nie verhalten habe, während ich gleichzeitig unaufhörlich das Gefühl hatte, nicht echt zu sein, alles nur zu spielen, aber einfach nicht dagegen anzukommen. Es war ein wenig, als wäre ich ein Betrunkener, der peinlichen und gefährlichen Mist baut, und gleichzeitig im selben Körper ein nüchterner, der zusieht und nicht eingreifen kann. Vielleicht war das die Spaltung in der Spaltung? Ich äußerte meine Zweifel an den Erinnerungen, das Gefühl unecht zu sein und Zweifel an der Diagnose selbst. Die Erinnerungen aber sollten immer noch „sein dürfen“, das Gefühl unecht zu sein läge daran, dass es sich ja um andere Anteile handelt, und dass ich an meiner Diagnose zweifele, würde beweisen, dass ich sie habe, so die Aussage der Therapeutin. Alle Patientinnen, die ich kennen gelernt habe, hatten solche Zweifel. Für mich war es kaum erträglich, nicht verstehen und erfassen zu können, ob die Bilder in meinem Kopf nun echte Erinnerungen sind, oder totaler Blödsinn. Und selbst wenn es Blödsinn ist, wie um alles in der Welt komme ich dann auf solche Bilder? Warum macht mein Gehirn so etwas? Täglich, vermutlich sogar stündlich schwankte ich zwischen „alles echt“ und „kann unmöglich passiert sein“. Unermüdlich arbeitete es in mir, mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung, bis ich schließlich nervlich völlig erledigt war. Am Ende meines zwölfwöchigen Aufenthaltes wurde mir geraten, weiterhin keinen Kontakt zu meiner Familie mehr zu haben und mich nicht so sehr zu belasten, also nicht weiter zu studieren, um den traumatisierten Anteilen Raum zu geben. Überhaupt sollte ich meinen Anteilen, jedem einzelnen der inzwischen ca. 25, jeden Tag Raum geben.
Ich kam zurück in meine Wohnung und war völlig durcheinander. Ich versuchte, mich an die Anweisungen der Klinik zu halten, (auch wenn ich wieder sporadischen, sehr angespannten Kontakt zu meiner Familie aufnahm) – und drehte schier durch. Ich versuchte verzweifelt, alles zu ordnen, mich zu ordnen, zu verstehen, woher diese Bilder kamen, die nun in meinem Kopf umherspukten, zu verstehen, ob sie echt sind oder nicht, es kamen sogar noch neue dazu. All meine Symptome verschlechterten sich massiv und ich war nicht mehr Herr meiner selbst. So landete ich nach einigen Wochen akut in der Psychiatrie. Selbst dort versuchte ich noch händeringend mich zu ordnen, konnte aber den Kontakt zu meiner Familie wieder aufnehmen und mich insgesamt stabilisieren. Nachdem ich über ein halbes Jahr nicht bei meinen Eltern zu Hause war, merkte ich richtig, wie sehr ich die Umgebung, mein Zimmer, den Garten meiner Eltern und meine ganze Familie vermisst hatte. Durch den Kontaktabbruch gingen meine Eltern nun etwas anders mit mir um und ich konnte nach und nach Abstand von meinen „Erinnerungen“ nehmen. Noch ein wenig später kontaktierte ich False Memory Deutschland, um nochmal eine Einschätzung zu bekommen. Mir konnte schnell weitergeholfen werden und ich stehe heute noch regelmäßig in gutem Kontakt. In all der Zeit davor hatte ich immer wieder darüber nachgedacht den Verein zu kontaktieren, aber dann doch nicht den „täterloyalen Anteilen“ das Zepter in die Hand geben wollen. Inzwischen war ich überzeugt, es gibt gar keine täterloyalen Anteile und schon gar keine Programme. Nach und nach ging es mir immer besser, ich war näher bei mir, einzelne Symptome waren nicht verschiedene Anteile, sondern einfach ein Teil von mir. Das Vertrauen im mich und meine Erinnerungen wuchs langsam wieder und heute kann ich sagen: Diese schrecklichen Bilder – das waren keine Erinnerungen.
Der Kontakt zu meiner Familie ist heute wieder gut, auch wenn wir nie richtig über den Kontaktabbruch gesprochen haben. Ich habe mich entschieden, keine weitere Therapie mehr zu machen und meine Vergangenheit soweit möglich Vergangenheit sein zu lassen. Ich rede immer noch viel mit mir selbst – und liebe es. Es ist meine Art meinen Tag und meine Erlebnisse zu verarbeiten, wozu Tagebuch schreiben, wenn ich auch reden kann. Meiner Mutter verzeihe ich ihre Taten und bin damit endlich frei und gebe mein Bestes, einfach in der Gegenwart mein Leben zu leben und mein Studium demnächst abzuschließen. Natürlich ist nicht plötzlich alles einfach und als wäre ich gesund und meine Vergangenheit und diese Therapie nie passiert, aber ich habe heute wieder die Kraft und das Selbstvertrauen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und wenn es mal schwierig ist, dann weiß ich, was ich tun kann und wer mir helfen kann und wer nicht. Und vor Allem weiß ich: Ich bin ich, mit all meinen Facetten, positiv wie negativ, das alles gehört zu mir und das ist gut so.
Zu Unrecht beschuldigt⇒⇐Bericht eines betroffenen Vaters