Etwa 10 Jahre ist es her, dass unsere Tochter mir gegenüber zum ersten Mal andeutete, mein Mann hätte sie als Kleinkind sexuell missbraucht. Wir saßen in einem öffentlichen Café in einem Einkaufszentrum − meine damals 23-jährige Tochter und ich. Wir hatten uns auf meinen Wunsch hin zu einem klärenden Gespräch verabredet, weil es seit einiger Zeit Unstimmigkeiten in unserem bisher guten Verhältnis gab. Unsere Tochter machte damals eine Therapie im Rahmen ihrer Heilpraktiker-Ausbildung, davon hatte sie uns erzählt. Sie hatte auch gesagt, das sei ein langer und schwieriger Weg. Eine gewisse Reserviertheit uns und der Familie gegenüber, die wir seit einiger Zeit festgestellt hatten, führten wir auf
diese Therapie zurück. Einen solchen ungeheuerlichen Vorwurf hätten wir uns jedoch in unseren schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Ich saß in diesem Café, meine Tochter mir gegenüber, mit starrem Gesicht, ohne jede Mimik, ihre Sprache wirkte einstudiert und sie reagierte kaum auf meine Einwände. „Ich erzähle dir eine Sache, und wenn du mir glaubst, erzähle ich dir mehr.“ Nach einiger Zeit stand sie auf, zahlte selbst ihr Getränk und verließ das Café ohne Gruß.
Ich wusste, dass die Vorwürfe nicht stimmen konnten − gleichzeitig hatte ich das Gefühl, meine Tochter zu verraten und mich gegen sie zu stellen, wenn ich ihr nicht glaubte. Ich konnte mich nur, bei aller inneren Zerrissenheit, auf die Seite der Wahrheit stellen. Damals wusste ich noch nichts von induzierten Erinnerungen und von der Tatsache, dass unsere Tochter ihre Sichtweise ebenfalls für die Wahrheit hielt. Später fanden wir heraus, dass in der Heilpraktikerschule, die sie besuchte, alle körperlichen und seelischen Leiden eines Menschen auf die eine Ursache − sexuellen Missbrauch in der Kindheit − zurückgeführt werden.
Man kann sich kaum vorstellen, was es bedeutet, aus heiterem Himmel mit einem solchen Vorwurf konfrontiert zu werden. Nicht nur die Familie ist bedroht, sondern die gesamte Existenz. Können die Vorwürfe stimmen? Zweifel gegenüber dem Partner stellen sich ein, die das Verhältnis dauerhaft belasten können und nicht selten auch zur Trennung führen. Der Partner, der von seinem geliebten Kind falsch beschuldigt wird, ist am Boden zerstört und braucht Unterstützung. Was passiert, wenn es eine Anzeige gibt? Schnell wird einem klar, dass die Feststellung „Ich habe nichts getan, also kann mir nichts passieren“ sehr naiv ist. Man hat schon von der Verurteilung Unschuldiger gehört − wie könnte man also vor Gericht seine eigene Unschuld beweisen? In einem etwaigen Gerichtsverfahren stünde wohl Aussage gegen Aussage. Das ‚Urvertrauen‘, das in der Familie gerade noch selbstverständlich war, ist nachhaltig zerstört. Gleichzeitig macht man sich große Sorgen um sein Kind und setzt alles daran, in Kontakt zu treten und das alte Vertrauen wiederherzustellen.
Neben Zweifeln, Hilflosigkeit und Existenzängsten stellt sich die Frage, wie man mit der Beschuldigung umgehen soll, wem man davon erzählen kann − in der Familie, im Freundeskreis und im beruflichen Umfeld. Es ist ja Teil jeder belanglosen Unterhaltung, sich nach der Familie und besonders auch nach den Kindern zu erkundigen. Der Vorwurf ist plötzlich in allen Bereichen des Lebens präsent. Sich auf andere Dinge zu konzentrieren, fällt schwer, und ein unbelastetes Leben ist nicht mehr möglich. In die Sorge um das Kind mischen sich Hilflosigkeit, Wut, Verzweiflung und Trauer.
Rückblickend war für uns die größte Hilfe in dieser Situation wohl die große Schwester, die weiterhin Vertrauen zu ihren Eltern hat. Auch Gespräche mit anderen Familienmitgliedern oder guten Freunden können helfen, sowie natürlich Beratungsstellen, die sich mit dem Phänomen der falschen Erinnerungen auskennen. Auf False Memory Deutschland sind wir leider erst nach einigen Jahren gestoßen. Wir haben erstaunt festgestellt, dass wir tatsächlich ein Fall unter vielen sind. Die Seminare des Vereins bieten die Möglichkeit, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und sich zu verschiedenen Themen im Zusammenhang mit induzierten Erinnerungen zu informieren. Unsere Tochter haben wir leider nicht zurückbekommen und unsere Welt ist nicht wieder heil, aber wir wissen, dass wir nicht allein sind, und können besser verstehen, wie es zu der Anschuldigung gekommen ist.
Claudia F.
Traumatherapie - und nur noch Scherben⇒⇐Nie die Hoffnung aufgeben